Welche Rolle spielt die Saisonalität bei der Infektionsentwicklung? Wie stark sinken die Werte im Sommer? Wie hoch ist dieser Sommereffekt? Und gibt es Unterschiede zwischen Ländern in der Nord- und Südhemisphäre? Zwischen wärmeren und kälteren Klimazonen? Wird es bei Corona sich so wie bei den anderen Viren von Atemwegserkrankungen entwickeln? Und wird sich Sars CoV 2 an unseren gewohnten Sommereffekt halten?
Die Beantwortung dieser Fragen ist vor allem für uns für die Bewertung hier in Europa wichtig. Alle Grundrechte einschneidenden Maßnahmen einschließlich der Lockdowns hängen im Sommer davon ab. So war es kein Wunder, dass bereits im Frühjahr 2020 von verschiedenen Experten grundverschiedene Aussagen zum Sommereffekt aufpoppten.
Warum spekulieren, wenn empirische Daten vorhanden sind?
So unterschiedlich die Aussagen der diversen Experten war, so eindeutig
verlief die Infektionsentwicklung in 2020 tatsächlich. Die Zahlen rauschten bereits ab Mai in den Keller und blieben nahe der Null-Linie den ganzen Sommer über. Und das so gut wie in allen 27 EU Ländern. Im Durchschnitt verlief die Inzidenz nahe der Null-Linie. Die Empirie lieferte somit starke Evidenz für den Sommereffekt - auch für SARS CoV 2 bzw. Covid 19 Erkrankungen.
Überraschender Drosten Tweet: 20% Sommereffekt
Umso überraschender kam nun der Tweet auf Twitter vom 27.05.21 von Christian Drosten zum Thema Saisonalität und Sommereffekt.
"Für alle die meinen, dass das wärmere Wetter die Übertragung von selbst erledigt. Nach derzeit konsensfähigen Schätzungen bewirkt der Sommereffekt ca. 20% Reduktion. S. nochmal der Podcast vom Dienstag auch zu diesem Thema, auch mit Erwähnung Europäischer Länder."
Darauf hin entwickelte sich folgende Tweetsabfolgen:
Der RKI Forscher Kai Schulze erinnerte sich, dass Drosten im Frühjahr 2020 von einem Sommereffekt von 40% gesprochen hatte. Er traute sich deshalb auf diesen Widerspruch hinzuweisen und nach der Quelle zu fragen:
"In einem älteren Podcast zitierten Sie eine Modellierungsstudie (Kissler et al.). Dort werden bis zu 40% angenommen. Könnten Sie (oder andere hier) bitte nochmal die Quelle dieser konsensfähigen (20%) Schätzung nennen?"
Diese konkrete Anfrage nach einer evidenzbasierten Quelle stresste offensichtlich Drosten zu sehr. Seine Antwort fiel wenig sachlich und mitunter etwas derb gegenüber einen brav anfragenden Kollegen aus.
„Die Quelle und eine Begründung dazu hatte ich Ihnen ja 2h vor diesem Tweet per DM erläutert. Dass Sie das nicht interessiert, zeigt mir, dass es Ihnen nicht um Inhalte geht. Troll Dich!“
Unabhängig von der wenig souveränen Antwort, die jedem einmal bei vielen Tweets passieren kann, stellt sich vielmehr die inhaltliche Frage. Aber wie evidenzbasiert ist Drosten´s Aussage eigentlich? Und warum widerspricht er sich sogar innerhalb von nur einem Jahr?
Die Kissler Studie mit dem 40% Sommereffekt gibt es tatsächlich. Die 40% beziehen sich zudem auf den R-Wert und nicht auf die empirisch bedeutsamen Inzidenzwerte. Sie bietet zudem nur Simulationen mit vielen unbekannten Variablen an. Die Frage ist, warum man Modellierungen vertrauen soll, wenn empirische Daten eine andere Sprache sprechen. Nach dem Methodenpapst John Ioannides bieten Simulationen im besten Falle nur schwache Evidenz. Aber zumindest konnte Drosten diese Modellierungsstudie noch zitieren.
Für die Behauptung, dass der Sommereffekt nur 20% zur Senkung beiträgt, verwies er nur auf seine Podcast Aussage.
Wir haben die über 1.000 Seiten Skript zur Podcast Serie für Zeitraum 26.02.2020 - 25.05.2021 nach dem Stichwort "Sommereffekt" und "Saisonalität" durchsucht und wenig Essentielles, schon gar keine wissenschaftlichen Quellnachweis gefunden. Einige Auszüge:
NDR Podcast Drosten Aussage vom 25.05.2021
"Wir haben immer wieder im Podcast gesagt, dass die Einschätzung des
Temperatureffekts nicht so ist, dass es den nicht gibt oder dass der alles beendet, sondern dass der ungefähr im Bereich von 20 Prozent Effektivität liegt. Um
20 Prozent geht die Übertragung bei den Erkältungs-Coronaviren in den Sommermonaten zurück."
"Schauen wir uns einmal Länder in Europa an. Da gibt es im Moment eine Gruppe mit hohen Zahlen. Schweden und auch Belgien und Holland haben immer noch eine hohe Inzidenz. Sie liegen im Bereich der 400er-Wocheninzidenz. Auch Griechenland und
Dänemark liegen jeweils bei um die 240, das ist eine Gruppe mit hohen Inzidenzen. Griechenland ist dabei."
NDR Podcast Drosten Aussage vom 02.03.21
"Ad an der Stelle muss man sagen, auch wenn jetzt kein Sommereffekt auf das Virus in starkem Maße zu erwarten ist ...."
NDR Podcast Drosten Aussage vom 26.06.20
"Aber wenn man das so vergleicht und sich das vergegenwärtigt, dann kommt man doch zu der Ahnung, dass das vielleicht nicht der Sommereffekt ist, sondern dass das einfach die Ruhe ist, die wir jetzt gewonnen haben durch dieses sehr effiziente Bremsen in Deutschland".
NDR Podcast Drosten Aussage vom 09.03.2020
"Alles, was wir im Moment haben, um die Zukunft vorauszusagen, sind Modellrechnungen. Und so eine Studie ist herausgekommen von einer weltweit führenden Gruppe. Die sagt voraus, dass der Temperatureffekt auf dieses Virus
relativ klein sein wird. .... Aber im Moment ist meine Einschätzung mehr, dass wir wahrscheinlich eine direkt durchlaufende Infektionswelle bekommen.
Das heißt: Wir müssen damit rechnen, dass ein Maximum von Fällen in der Zeit von Juni bis August auftreten wird."
Das war es. Im Podcast spricht er also nur sehr allgemein oder nur von "hohen" Inzidenzwerten (und nicht vom R-Wert) für Mitte Mai 2021 in einigen europäischen Ländern. Diese fallen aber gerade in den Keller. Die Verspätung, dass die Inzidenzkurven 2021 etwas später fallen, liegt möglicherweise aber am kalten April und Mai Wetter im Vergleich zu anderen Jahren. Im jeden Fall sinken jetzt die Inzidenzwerte unisono und stehen Stand 9. Juni 2021 bei Inzidenz 33 in Deutschland, 57 für die EU).
Ein evidenter Beweis oder eine wissenschaftliche Studie war bei Twitter von ihm nicht zu finden. Im Podcast selbst wurden wir auch nicht fündig.
Dem Tweet nach hatte Drosten offensichtlich vorab mit dem RKI Forscher Schulze sich darüber unterhalten und Schulze war möglicherweise nicht überzeugt von Drosten´s 20% These. Warum trotz nicht vorgelegter evidenzbasierter Belege Drosten im Tweet dennoch diese kaum haltbare 20% These vorträgt, bleibt sein Geheimnis. Durch wiederholtes Vortragen jedenfalls erhöht sich die Evidenz nicht.
So widersprüchlich Drosten´s Aussagen - zuerst 40% Sommereffekt im Jahre 2020 dann 20% in 2021 - sind, beide liefern wenig bis keine Evidenz. So dann von einem "derzeit konsensfähigen Schätzung" zu sprechen ist merkwürdig. Denn was und wen meint er mit "konsensfähig". Und wer hat das Recht dies zu definieren? Und warum auf eine Schätzung vertrauen, wenn es empirische Daten gibt? Das alles klingt sehr nach einer selbst unterstellten Deutungshoheit, bei der es keiner Belege mehr bedarf.
Der ehemalige und langjährige WHO Epidemiologe Klaus Stöhr kommt deshalb auch auf eine ganz andere Bewertung:
"Der wirkl. Einfluss der Saisonal. beträgt das ca. 10-15 fache genau wie bei vielen saisonalen Atemwegserkr. (und nicht das 0.2 fache). Allerdings: bei # SARSCoV2 gibt es noch ein sehr grosses Reservoir an Nicht-Immunen. Deshalb sind auch im Sommer noch grosse Ausbrüche möglich."
Das sind bedeutsame Unterschiede: Zwischen 0,2 und 10 liegt der Faktor 50!
Verschwiegen wird von Drosten zudem, dass es aus Sommer 2020 starke evidenzbasierte Belege gibt. Und die kommen aus der Empirie.
Folgendes Chart zeigt für alle relevanten EU Länder die Inzidenzverläufe über ein Jahr. Zu sehen ist, dass im Sommer von Mai bis September die Inzidenz nahe der Null-Linie (zwischen 5 und 30) verläuft. Wie jeden Sommer davor.
Lediglich Spanien weist am Ende der Sommerperiode ansteigende Inzidenzen auf. Diese können jedoch möglicherweise auf die Einführung der Antigen Schnelltests, die Spanien früher und quantitativ stärker als die anderen eingeführt hat, zurück zu führen sein. Dies kann hier nicht abschließend geklärt werden. Fest steht, dass so gut wie alle Länder sehr flache Verläufe aufzeigen bzw. die durchschnittliche Inzidenz für Europa (s. 1. Chart) entlang der Null-Linie verlief.
Zur Erinnerung: Die Maskenpflicht wurde aufgrund der Lieferschwierigkeiten in vielen Ländern nicht sofort eingeführt, es gab keine Impfung, es gab in den meisten Ländern keinen Lockdown, es fand reger Urlaubsverkehr statt und es gab auch keine verschärften Wintermaßnahmen (Bundesnotbremse u.a.).
Dennoch blieb die Inzidenz im europäischen Sommer im Keller. Und das obwohl immer häufiger getestet wurde (hierdurch entsteht ein methodisches Artefakt durch nicht Berücksichtigung der Testzahlen zu positiv getesteter Personen).
Internationale Studie "Saisonalität Respiratorischer Virusinfektionen"
Zuletzt wollen wir noch auf eine aktuelle umfassende Untersuchung zur Saisonalität bei Atemserkrankungen verweisen.
Die Studie "Saisonalität Respiratorischer Virusinfektionen" vom September 2020 eines US und Schweizer Forschungskonsortiums (University of Yale, Abteilung für "Immunbiologie, Univerity of Yale, Abteilung für Molekular- und Zellbiologie, Medical Institute Maryland und Universität Zürich, Institut für Primärversorgung) beschäftigt sich umfassend nach die Einflussgrößen von Viren, Umwelt und Verhaltensparametern auf die Entwicklung von Atemwegsinfektionen weltweit.
Die Frage ist, ob Christian Drosten von dieser Studie nicht hätte wissen können?
Und wenn er sie gekannt hat, warum er hierauf bei einer solch bedeutsamen Frage, die eine Verlängerung des Lockdowns nach sich zieht, Bezug genommen hat? Und warum er die harten empirischen Daten aus den flachen Inzidenzverläufen in Europa 2020, die jeder Epidemiologe kennen muss, nicht zur Kenntnis genommen?
In ihrem Abstract halten die US und Schweizer Forscher fest:
"Der jahreszeitliche Zyklus respiratorischer Viruserkrankungen ist seit Tausenden von Jahren allgemein bekannt, da in der Wintersaison in gemäßigten Regionen jährliche Epidemien der Erkältungs- und Grippekrankheit die menschliche Bevölkerung wie ein Uhrwerk treffen. Darüber hinaus treten in den Wintermonaten Epidemien auf, die durch Viren wie das Coronavirus des schweren akuten respiratorischen Syndroms (SARS-CoV) und das neu aufkommende SARS-CoV-2 verursacht werden."
"Darüber hinaus treten in den Wintermonaten neu auftretende Virusepidemien auf, wie das Coronavirus des schweren akuten respiratorischen Syndroms (SARS-CoV) von 2002–2003 und das kürzlich aufgetretene SARS-CoV-2 (4-7), was darauf hinweist, dass die Winterumgebung die Ausbreitung einer Vielzahl von Atemwegsvirusinfektionen fördert.
Immer mehr Studien weisen auf mögliche saisonale Determinanten der Epidemien von Atemwegsviren sowie auf Wirtsfaktoren hin, die von diesen Faktoren beeinflusst werden. Dazu gehören saisonale Veränderungen der Temperatur, der absoluten Luftfeuchtigkeit (AH) , des Sonnenlichts, des Vitaminstatus und des Wirtsverhaltens (8-16)."
Die Forscher kommen zu dem Schluss:
"Darüber hinaus beeinträchtigen eine kurze Tageslichtperiode und ein daraus resultierender Vitamin-D-Mangel unspezifische Immunantworten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kombination aus niedriger Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Sonneneinstrahlung eine Beeinträchtigung der lokalen und systemischen antiviralen Abwehrmechanismen auslösen kann, was im Winter zu einer erhöhten Anfälligkeit des Wirts für die Atemwegsviren führt."
Transparenztest Resümée
Die Empirie für den Verlauf der SARS CoV 2 Infektionen und Erkrankungen in der EU untermauert die starke Saisonalität und bringt starke Evidenz. So gut wie alle EU Ländern zeigten von April bis September 2020 flache Verläufe, steile Anstiege ab Oktober - trotz anfangs fehlender Masken, fehlendem Lockdown, fehlenden verschärften Maßnahmen wie Bundesnotbremse und fehlender Impfung. Dafür gab es umfangreichen Reiseverkehr. Deutlicher geht es nicht.
Die zitierte Studie "Saisonalität Respiratorischer Virusinfektionen" analysiert umfassend alle Einflussgrößen der Saisonalität. Die Bewertung ist eindeutig - es gibt saisonale Unterschiede.
Für Transparenztest ist es nicht nachvollziehbar, warum theoretische Überlegungen, anfällige Modellierungen mit Berechnungen mit vielen unbekannten Faktoren harten empirischen Daten vorgezogen werden.
Wir sollten anfangen vor allem empirischen Daten mehr zu vertrauen und evidenzbasierte Belege und Forschungsdaten von den Entscheidungsträgern einzufordern.
Einen evidenzbasierten Beleg für Drosten´s 20% Aussage haben wir nicht gefunden. Vielleicht sollten wir alle öfters nachsehen, wie es um den Evidenzgehalt seiner Aussagen wirklich steht.
Ohne Sie geht es nicht!
Unser Ziel ist es uns alle für mehr Transparenz und Evidenz zu sensibilisieren.
Wir Bürger haben ein unabdingbares Recht darauf zu erfahren, was wann wie und aus welchen Gründen - ohne unsere Zustimmung - entschieden wird. Da selten die Informationen vollständig und nachvollziehbar gegeben werden, müssen wir wach bleiben und nachfragen.
Stärken Sie uns mit einem kleinen Beitrag den Rücken, damit wir mit Ihrer Unterstützung dies von den Verantwortlichen einfordern können.
Wir danken Ihnen hierfür herzlich an dieser Stelle, da wir aus Gründen des Datenschutzes auf Spenden nicht antworten dürfen.
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Quellen:
Johns Hopkins University, CSSE Covid-19-Data in World in Data, Inzidenz Europe
Johns Hopkins University CSSE Covid-19, Our World in data - Inzidenz Saisonalität EU Länder
https://www.annualreviews.org/doi/10.1146/annurev-virology-012420-022445#_i6
twitter: tweet von C. Drosten 27. Mai
twitter: antwort von K. Schulze 27. Ma
twitter: tweet von C.Drosten 27.Mai Troll Dich
NDR Podcast 1.021 Seiten Skript Folge 1-90 im Zeitraum 26.02.20-25.05.21
Klaus Stöhr, tweet vom 08.06.21
Saisonalität Respiratorische Vireninfektionen, Miyu Moriyama,1 Walter J. Hugentobler,2 and Akiko Iwasaki1,3,4
https://www.annualreviews.org/doi/pdf/10.1146/annurev-virology-012420-022445
Miyu Moriyama, Walter J. Hugentobler, und Akiko Iwasaki
Miyu Moriyama, Walter J. Hugentobler, und Akiko Iwasaki
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